Weißbuch: Von Agenda 2010 zur Arbeit 4.0

07.12.2016

Grafik: 123RF/E. Sergeev

Letzten Dienstag hat Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) auf einer Konferenz das Weißbuch „Arbeit 4.0“ vorgestellt, ihre Vorschläge zur Bewältigung des digitalen Wandels unserer Arbeitswelt. Darin werden Trends und gesetzliche Handlungsfelder ausgemacht sowie konkrete Regierungsvorhaben angesprochen. Dieser Diskussionsentwurf ist aber weder der Weisheit letzter Schluss, noch mit dem Koalitionspartner CDU/CDU abgestimmt. Was ist dieses Weißbuch also, welches zehn Monate vor der nächsten Bundestagswahl veröffentlicht wurde? Ein Leitfaden, wie der Staat die digitalen Herausforderungen der Arbeitswelt angehen wird oder am Ende doch nur ein gigantisches steuerfinanziertes Wahlprogramm der SPD? Unbestritten ist, dass sich Politik mit dem digitalen Wandel auseinandersetzen muss. Dieser ist keine Naturgewalt und kann bzw. muss gestaltet werden. Dafür sind vor allem die Beschäftigten in den letzten zwanzig Jahren in Vorleistung gegangen. Wer aber denkt, jetzt wird endlich eine gerechtere gesellschaftliche Verteilung der zunehmenden Profite organisiert, der irrt sich gewaltig. Denn das Weißbuch macht vor allem eins deutlich: Am Status Quo der ungleichen Verteilung wird nicht gerüttelt. Es wird lediglich dafür gesorgt, dass die Unternehmensgewinne in zehn Jahren noch genauso sprudeln wie heute. Dafür müssen die Beschäftigten erneut mit anpacken und sich neben mehr Flexibilität künftig auch beständig weiterbilden, um fit für den Arbeitsmarkt zu bleiben. Kommt Ihnen das bekannt vor?

„Entweder wir modernisieren, und zwar als Soziale Marktwirtschaft. Oder wir werden modernisiert, und zwar von den ungebremsten Kräften des Marktes, die das Soziale beiseite drängen.“ Dieser Satz stammt aus der Regierungserklärung zur Agenda 2010 des damaligen Bundeskanzlers Schröder (SPD) aus dem Jahr 2003, könnte aber ebenso dem Weißbuch entnommen sein. Denn auch Nahles hat angemahnt, dass uns allein die soziale Marktwirtschaft mit ihren Sozialpartnerschaften vor einem kalifornischen Raubtierkapitalismus á la Google oder Facebook schützen kann. Diese scheinbare Alternativlosigkeit ist es nun wieder, die uns im Weißbuch entgegenschlägt und die den Beschäftigten suggerieren soll: so und nicht anders können alle vom digitalen Wandel profitieren. Zumindest haben die Sozialdemokraten dazugelernt: Während die Gewerkschaften gegen die Agenda 2010 noch auf der Straße Sturm liefen, sitzen sie jetzt mit am Verhandlungstisch, wenn auch mit wenig Erfolg. Denn die tarifliche Öffnungsklausel beispielsweise, mit der Nahles jetzt ausgewählten Betrieben die Möglichkeit gibt, sowohl von der täglichen Höchstarbeitszeit von zehn Stunden als auch von den vorgeschriebenen Ruhezeiten abzuweichen, erfüllt in erster Linie zwei zentrale Arbeitgeberforderungen. Auch die mittelfristige Offensive für ein Lebenslanges Lernen und der darin genannte Umbau von der Arbeitslosen- hin zu einer Arbeitsversicherung, die Erwerbslosigkeit bei den Menschen durch beständige Qualifizierung gar nicht erst entstehen lassen soll, birgt in ihrer Konsequenz ein massives Drohpotential für Beschäftigte. Wenn künftig die Bundesagentur für Arbeit über das „up to date“ unserer Qualifikationen wacht, ist es von da aus nur noch ein kleiner Schritt zu ordnungspolitischen Zwangsmaßnahmen. Quasi Fördern und Fordern in Neuauflage. Damit wird das in dem Weißbuch anklingende „Menschen gar nicht erst aus dem Arbeitsmarkt lassen“ einfach dem „Menschen in Arbeit bringen“ von 2003 vorgelagert – die neoliberale und damit erfahrungsgemäß menschenverachtende Tonlage bleibt bestehen. Um dieser aber einen sozialen Touch zu geben, entdeckt die Bundesregierung die Tarifbindung für sich neu.

Beachtlich, hat sie doch jahrzehntelang aktiv dafür gesorgt, dass heute nicht einmal mehr die Hälfte aller Beschäftigten durch einen Tarifvertrag geschützt ist. Aber erneut steckt der Teufel im Detail, denn wie die schon angesprochene tariflichen Öffnungsklausel beim Arbeitszeitgesetz zeigt, wird mit Ausnahmen an gesetzlichen Mindeststandards Tarifbindung in erster Linie für Arbeitgeber attraktiv, nicht für deren Beschäftigte. Für die steht zu befürchten, dass Tarifverträge eher zu einem Fluch statt zu einem Segen werden. Die Gewerkschaften sollten also genau darauf
achten, in wessen Wagen sie da der Zukunft der Arbeit entgegen brausen. Überraschenderweise liefert das Weißbuch über neue Arbeitsformen wie Crowdworking oder Clickworking nichts Konkretes. Diese bleiben weder arbeitsrechtlich organisiert noch werden sie in die sozialen Sicherungssysteme einbezogen. Das Arbeitsministerium lässt ihrer Entwicklung freien Lauf und das hilft, wen wundert’s, wieder den Arbeitgebern.

Unterm Strich sieht es also für die Beschäftigten düster aus: Die noch gewerkschaftlich organisierten Stammbelegschaften werden einerseits durch tarifliche Öffnungsklauseln angegriffen und andererseits durch die Förderung von individuellen Vereinbarungen gespalten. Prekäre Beschäftigung wie Leiharbeit oder Minijobs werden weder infrage gestellt noch abgeschafft und für die neuen digitalen Arbeitsformen gibt es weiterhin keinen gesetzlichen Regulierungsrahmen. Für eine gerechte Gestaltung unserer Arbeitsgesellschaft, in der auch das emanzipatorische Potential, was jedem technologischen Wandel innewohnt, solidarisch ausgeschöpft wird, bleibt auch nach dem Weißbuch noch sehr viel Luft nach oben.

Gastbeitrag für die Frankfurter Rundschau am 7. Dezember 2016